Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Hans Imhoff
Eine Geliebte Goethes

 

... nur der Wissende hat das
Recht, sich an dem geheimen
Sinn zu erbauen ...
Marianne von Willemer
an Goethe, 1817

 

III

So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!

Goethe mochte der Dialektik einer durch selbsterzeugte Pole prozessierenden Totalität nicht folgen. Er bevorzugte eine Vernunft und Sinnen unmittelbar zugängliche Göttlichkeit und hielt das für stärker, gesünder, für das Wahre. Indem er sich aber gegen den Parmenides-Dialog und für die Magie, die christliche zwar, der er doch den Tod geschworen, entscheidet, konstituiert er sich zur kritischen Summe des gezüchteten Menschen, des künftigen, der nicht mehr "herr von sich" ist. Noch spät sehnte sich Marianne danach, durch ein Wiedersehen "vielleicht noch ganz vernünftig zu werden", sie begehrt "oft", "ja immer mehr" darüber aufgeklärt zu werden, "was mir so unklar in meinem Kopf schläft. (Brief an Goethe vom 2. März 1824) Die "nächste Nähe", dieser ungeheure Begriff einer dem Fließen der Gestalten, des Lichtes und des Lebens erlegenen Logik, ist eben an sich nicht geeignet, sich bis zur Subjektivität, oder objektiven Idealität, zur Wirklichkeit durchzuringen. Zwar getilgte Trennung, ist sie doch nicht vermittelte Identität; die Geliebten sind sich Gefundene, Wiedergefundene, nicht als sie als je der andere als er als er erzeugt. Die Frau, die sich zum "stillen Pfad" bekannte, war die um Familie, Heimat, Künstlertum, Kinder und Liebe Betrogene, der das Schicksal dies alles um den Preis des Vollbesitzes reichlich vergütete, die es rettete. Solche Bedingung machte sie Goethe, dem Betrogenen schlechthin, an dem Schnittpunkt ihrer Leben kongenial. "Wiederfinden", "Rettung" und "Nähe" sind Zeichen des unvollständigen Schlusses; doch während die Frau es von Himmelsglanz umgeben und glücklich leidet, trägt der Genius die vorenthaltene Vereinigung in düsterem Triumphe. So entzog sich ihnen der süße Geist des Grams, mit dessen betäubendem Widerschein sie sich begnügten, da er sie nicht würdigte.

Dem Schrei der Leichtverführbaren hat er nicht willfahrt, ihrem Laß mich nicht allein begegnete er aus der Ferne mit einem O wärst du da! Die von Goethe in seinen Verhältnissen stets aufrecht erhaltene rastlose Entfernung, in welcher er das "Selbander" schaut, das er gestiftet hat, doch nicht vollenden will, treibt in Marianne jenen Kosmos der nächsten Nähe hervor, einen steilen Mystizismus, dessen Leben in der Abgeschiedenheit astralen Glanzes je allein die überwirkliche Liebe beansprucht. Die nächste Nähe ist keine solche an sich verschiedener, sondern ist in sich als ungeschiedener, eine Totalität, welche sich nicht zum Heile verdoppelt, sondern in heller Verzweiflung loht.

In der Familie Textor vererbten sich hellseherische Fähigkeiten; hier hatte Goethe sie wiedergefunden. Bereits der 17jährige dichtete an die drei Jahre ältere Annette (Käthchen) in seinem ersten Buch, daß ihrer beider Entzükken nicht mit dem Pinsel gemahlt werde. Die Liebe ist ihm die vollkommenste, die sich gleich bleibt, wenn ihr alles gewährt, wie wenn ihr alles versagt wird..

Um aber dem Mißverständnis zu wehren, als ab es Goethe an etwas gefehlt hätte, so ist vielmehr zu bestimmen, daß es der Geist selbst ist, der sich als defizient verdoppelt, und das Heutige ist die Projektion von Goethes Seele. Die absolute Derivation von sich hat beliebt, eine höchste Blüte totalen Mangels als eine wahre Gestalt ihrer hervorzubringen. Wenn sie ihm zitternd in den Armen liegen, eine weiche Heiterkeit auf ihrem Gesichte glänzt und ihnen zum ersten Male ganz wohl ist, dann ist sein an Kunst und Natur geschultes unendlich dürstendes Auge wahrhaft wach. Es ist Beobachtung der Liebe an ihrem Abglanz (in jeder Bedeutung des Wortes), was Goethe statt in ihrem Feuer die Kunst zu üben herbeizuführen bestrebt war, der Flammentod bleibt Floskel, eine Redeblume. Scheu, Furcht und Verwirrung beträgt die Zeche der Geliebten; Marianne war die einzige, die litt und genoß, sich demütigte und erhob. Nur sie war in der Lage, ihren Part gemäß der Goethe -gefälligen Vision des "Irrtums aneinander" wahrzunehmen, musterhaft darin, das ganze Dasein mit dem Freunde auf ihren Geist zu reduzieren und in der Asche dieser Diremption sie geläutert zu reflektieren. Die Spiegelung ihrer magischen Zitation ihrer selbst ist die Nähe, nach der sie hungert. Entsprechend genoß sie Goethe.

 

 

Editorische Notiz

Den Essay Eine Geliebte Goethes, welcher Themen des Essays Eleusinia von 1987 aufnimmt, begann ich 1990, unterbrach die Arbeit daran Mitte 1991 für anderthalb Jahre und setzte sie dann bis tief in das Jahr 1993 hinein fort. Kapitel III wurde Anfang Oktober 1995 ursa mense Maio recuperata angefügt.

Ursprünglich war der 160. Todestag Goethes zur Veröffentlichung bestimmt. Da ich mich aber gerade im schönsten Fortgang in den Ernst des Herabstiegs zur Lebensmitte warf, danach Heureka alethestata entstand, wurde die Beendigung wenn nicht gar beeinträchtigt, doch hinausgezögert, so daß sich jetzt der weit bessere Anlaß des 250. Geburtstages bot. An diesem Tag las ich den Freunden das Werk in seinen wichtigsten Teilen vor und machte Dieter Lincke das Manuskript zum Geschenk.

Im übrigen habe ich bis zum jetzigen Augenblick an meinem Bären geleckt, da ein weiteres Jahr seit der Verlesung vergangen ist. So geschieht es, daß in diesen Tagen im Hochsommer des Jahres 2000, während wir unter den Angriffen der an den Atlantik anrainenden Völkerschaften Tag für Tag und immer stärker zu leiden haben, das Oberhaupt des Brückenreiches im Morgen, des persischen, mit dem Oberhaupt des Brückenreiches im Abend, des deutschen, in Weimar gemeinsam das Denkmal für den West-östlichen Divan weihten. Die Welt nahm nicht teil.