Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Blüte I
Blüte II
Blüte III
Blüte IV
Blüte V

 

 

Republikanische

Blüte

Zweites Buch
 

(1981)

 

 

 

 

Frankfurt aber, nach der Gestalt, die Abdruck ist
der Natur zu reden
Des Menschen nämlich, ist der Nabel
Dieser Erde, diese Zeit auch
Ist Zeit, und deutschen Schmelzes.
Hölderlin

 

Die größte politische Weisheit ist die Erkenntnis, daß Bildung nichts anderes ist denn uneingeschränkte soziale Gerechtigkeit als Staat.
Imhoff

 

Mir wird berichtet, daß in Großbritannien sich die Flora wieder erholt, seitdem der Staat kein Geld für eine zureichende Instandhaltung der Straßen und Wege mehr aufbringen kann; in der Bundesrepublik werden hingegen, als hinge die Existenz des Staates davon ab, zur Bekämpfung völlig unschuldiger Gänseblümchen auf den öffentlichen und privaten Rasen jährlich in rund drei Millionen Arbeitsstunden etwa fünfzehn Millionen Liter Benzin verbraucht, um die Pflänzchen, die Bartolomeo da Venezia seiner kleinen Herrscherin in die Hand gegeben hat, mit Maschinen zu köpfen und damit ein einheitliches Rasenbild zu erreichen. An eine Biologiestunde auf dem Gymnasium muß ich immer zurückdenken. Ich wurde über Darwin und Lamarck geprüft; nachdem ich beide Lehren und ihren Unterschied referiert hatte, stellte der Lehrer, der wegen meines Ungehorsams damals große Wut auf mich hatte, eine Zusatzfrage, um mich zu Fall zu bringen: »Welche Lehre ist nun aber jetzt die wertvollere?« Ich, wie aus der Pistole: Der Darwinismus. Der Lehrer dagegen: Und warum? Wieder ich: »Weil er sich in der Geschichte als erfolgreicher erwiesen hat.« Ich glaube, daß ich mich so ausdrückte, eine Antwort in wahrhaft Darwinschem Geiste. Ein anderer geheimer, mir selbst unbewußter Grund, war noch folgender: Die Entstehung der Arten von Darwin war ein in unserer Familie durch meinen Vater zu hohem Ansehen gebrachtes Buch, ich möchte bitter sagen, es war überhaupt für die Generation der Väter ein deutsches Buch geworden. Ich war der Meinung, dem Schlimmsten entgangen zu sein, ja gut abgeschnitten zu haben. Aber weit gefehlt. Der Biologielehrer wurde dunkelrot und tobte: »Glauben Sie, daß Sie mit dieser Auffassung den Marxisten da drüben Widerstand entgegensetzen können? Die rennen Sie über den Haufen! Das ist die Bankrotterklärung des Abendlandes!« Ich muß gestehen, daß ich mich lange über diesen ersten antikommunistischen Ausbruch, dessen ich in meinem Leben Zeuge war, nicht beruhigen konnte; bis heute geht er mir nach. Ich war damals ebenso wie meine Mitschüler überzeugt, im Recht zu sein; heute weiß ich, daß ich im Unrecht war. Der Lehrer war im Zweiten Weltkrieg Fliegeroffizier und ein außerordentlicher Mann, hoch und breit, von leicht gebeugter Haltung, im Alter noch vital, nickte er gewöhnlich mit seinem riesigen Oval von Schädel, um auszudrücken, daß man sich da sehr irre. Er galt als ein Original, dem man manches nachsehen müsse, wie er seinerseits uns Schülern vieles nachsah, was schon der Umstand erzwang, daß Biologie an einem humanistischen Gymnasium nicht sehr ernst genommen wurde, obgleich es obligatorisches Fach von der ersten bis zur letzten Klasse war; aber es war ausgeschlossen, daß in den Abschlußklassen eine schlechte Note in Biologie ohne Genehmigung des Direktors gegeben werden durfte. Der Lehrer, obwohl ohne umfassende Bildung doch hochangesehen und einer der Ersten im Kollegium, hielt seinerseits nicht allzu viel von der humoristischen Bildung, wie er die humanistische respektvoll-respektlos nannte. Soviel zu dem Mann, den ich, ohne das es jemand wußte, herzlich gern hatte; das beruhte auf Gegenseitigkeit. Es fiel auf, daß er ideologisch gut geschult war, zumal er aus seiner Weltanschauung kein Hehl machte. So verteidigte ich einmal die Sehkraft des Menschen, von der er, im Vergleich mit Vögeln, nur voller Mitleid sprach; was wir sehen, sagte er, sei großenteils Intelligenzleistung, nicht Sehleistung, aber meine hohe Meinung von dem Menschen achte er. Wahrscheinlich habe ich es immer noch nicht begriffen, denn nach meinem heutigen Verständnis der Dinge hätte er sagen müssen, als ich dem Darwin die Ehre zuerkannte: Was ich den Angelsachsen entgegenzuhalten gedächte, wenn ich ihrem Geist huldigte? Denn schließlich, ist Darwin denn Leninist gewesen? Eher war doch Lenin Darwinist, aber auch das stimmte nicht; es gibt von ihm Passagen über die Entwicklung der logischen Kategorien durch Gewohnheit, die eindeutig lamarckistisch sind. Ist andererseits nicht Marxismus zum großen Teil angelsächsischer oder besser: britischer Empirismus? Aber was meinte der Lehrer denn überhaupt? Er gestand mir doch zu , daß der Darwinismus die richtige Lehre sei; ich sollte eben nur erkennen, daß der Lamarckismus die wertvollere sei. Er erkannte nicht an, daß das, was sich als richtig bestätigte, auch die Wahrheit sei. Zweifellos eine schwierige Trennung! Ich möchte daran erinnern, daß ich das Verlangen meines Lehrers inzwischen akzeptiere, ja überakzeptiere, daß ich das individuelle Verlangen und die erworbene, vererbbare Eigenschaft tatsächlich für ausschlaggebend für den Gesamtlebensprozeß halte. Gleichzeitig bin ich der Meinung, daß der Marxismus auf keinen Fall Sozialdarwinismus, sondern eher Soziallamarckismus ist, und daß mein verehrter Lehrer in guter deutscher, in bester nationalsozialistischer Manier unlogischerweise die Russen dessen beschuldigt, was die Engländer verbrochen haben . Und wenn nun die Engländer nichts verbrochen haben, und es uns hier um die Auffassung von dem Wert der Individualität zu tun ist und wir zugestehen oder unterstellen, daß sie im europäischen Westen auf den ersten Blick eindeutig höher rangiert als im europäischen Osten, was bedeutet dann, davon abgesehen, die von uns vorgenommene Trennung von richtig und wertvoll, richtig und wahr? An der evolutionären Front herrschen andere Verhältnisse als in der Masse des reproduktiven Lebens. Ich kann nicht das, was sich als falsch erweist, zum Wahren machen; ich kann ebensowenig etwas nur deshalb, weil es sich bestätigt und wiederholt bestätigt, als das Wahre anerkennen. Deshalb haben wir den Begriff der Wahrheit so gewählt, daß er das Richtige aufgehoben enthält. Das ist tatsächlich nicht mehr darwinistisch, sondern hegelianisch und marxistisch. Und hier scheiden sich die Geister in Wahrheit. Die Generation, die den Marxismus zu zerschlagen auszog, zerstörte Hegel und Deutschland, und sah sich hinterher genötigt, das zu rechtfertigen. In einem gewissen Sinne war der Zweite Weltkrieg von uns in englischem Interesse auf russischem Boden gegen Hegel, Goethe und Hölderlin geführt worden; das ist jedenfalls eine Lamarcks würdige Einsicht, zu der sich unsere Nationaldarwinisten nie erheben könnten. Das ist die eine Seite des Verhältnisses. Die andere Seite ist, daß der Empirismus an sich als Theorie der Erfahrung, des Erwerbens von auf Bedürfnis beruhender Erkenntnis, den Lamarckismus in sich enthält. Aber indem es bei diesem Ansich bleibt, können sich der Zufall und die Willkür jenes mechanistische Reich erbauen, das in Duns Scotus, Newton und Darwin seine größten Repräsentanten gefunden hatte und auf gut keltische Weise vom Rangsystem, beziehungsweise Geldsystem zusammengehalten werden muß. Der angelsächsische Kelte fragt: Was muß der Mensch wollen, was ist gut für den irdischen und den himmlischen König? Die Frage: Was darf der Mensch wollen, was ist gut für ihn?, diese Frage der Griechen und Deutschen liegt ihm relativ fern. Was die großdeutschen Phantasten nicht wußten, lehrt jedes Schulmädchen vom Festland der erste Besuch Londons, nämlich daß das alte keltische Kastenwesen nicht durch noch so viele germanische Invasionen verändert worden ist. Analog zu diesem sozialen Gefüge ist das allgemeinste Entwicklungsgesetz des Lebens gedacht. Darwinistisch: Die Bewährungsprobe hat der geistlose Wille des Individuums in seinem Kreise zu bestehen, jenseits dessen er falliert. Bei Lamarck hingegen ist der Wille schon beseelt, Bedürfnis, und das Leben Quelle und alleinige Grenze der individuellen Expansion des Bedürfnisses. Um den Zusammenhang mit der Weltgeschichte und der Gegenwart wieder aufzunehmen, sei mir die letzte Bemerkung gestattet, daß das von den Griechen entwickelte dialektische Denken nur in Mitteleuropa wieder erblüht ist, daß die Rekonstruktion des Bezugs zwischen Gesellschaft und Natur auf Deutschland beschränkt blieb und daß ein ernstzunehmender Begriff von Freiheit bisher nur in deutscher Sprache gedacht wurde; die Vorstellung sozialer Gerechtigkeit ist nach wie vor auf dem Stückchen Erde zwischen Bremen und Nürnberg, Straßburg und Leipzig beheimatet. Der Vitalismus Lamarcks legt auf eine sehr schöne Weise von dieser Schule Zeugnis ab; und umgekehrt unterliegt es keinem Zweifel, daß überall dort, wo Anwälte dialektischen Denkens und sozialen Kampfes den Felsen des Lebens hinanwälzen, sich gleichermaßen der Geist der Deutschen, ihre Metaphysik der Freiheit, und die Spekulationen der Lamarckschen Biologie bestätigen.