Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Blüte I
Blüte II
Blüte III
Blüte IV
Blüte V

 

 

 

Republikanische

Blüte

Viertes Buch

(1990)

 

 

 


Lüge nicht in Bezug auf die Vergangenheit
Leonardo

DANTE, CUSANUS, HEGEL, MARX – die größten Namen verbinden sich mit Entwürfen zur Reichsreform; die Curie, der Adel, der Weltliberalismus – ebenso große Mächte setzten alles daran, sie zu vereiteln. Die praktische Interpretation dieses Streites, als den die Substanz sich selbst hervortreibt, macht die tausendjähriige Geschichte vom Hochmittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart aus.
(. . .)

 

Aischylos, General und der bedeutendste dramatische Dichter und Komponist der Griechen, ist einer der entscheidenden, wenn nicht der wichtigste Initiator des europäischen Humanismus gewesen. Sein Werk besteht wesentlich in dem Hinweis darauf, daß das Gemeinwesen, das die Belange der Menschheit an ihrem höchsten Punkt verteidigt, die Stellung gegen die Feinde nur dann hält, wenn es nicht nur die strategische Überlegenheit besitzt, sondern sich auch durch den fortschrittlichsten Begriff von Freiheit geeint dem genau erkannten Feind überlegen weiß. Der europäische Humanismus steht und fällt mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe. Das Reich, beziehungsweise die europäischen Staaten, in deren Sittlichkeit sich der in den Systemen der Prima philosophia fortschreitend entwickelte Begriff der Freiheit manifestierte, hatten in dem Studium der Schriften der Alten den Humanismus zu ihrem höchsten Inhalt erhoben und damit einen einzigartigen Zusammenhang unter den Gelehrten gestiftet. Erstaunlicherweise verwahrlost der akademische Konsens und sein selbstbewußter, militanter Geist just in dem Augenblick, da der Anspruch der Vereinigten Staaten von Nordamerika und des Zarenreichs, beziehungsweise der großrussischen Bolschewiki unübersehbar wird, die Erbschaft des Imperium Romanum anzutreten. Die großen Schöpfer dieser Mächte haben sich zwar zuerst als Zuflucht des besseren, verfolgten (Hamilton) und als Erfüller der Verheißungen Europas (Lenin) verstanden, ihre Nachfolger zwischen dem Wiener Kongreß und der Konferenz von Jalta dann aber die Epoche eines langwierigen Vernichtungskrieges gegen Europa eingeleitet, dem sie, würden sie den Erfolg nicht aufs Spiel setzen wollen, den Humanismus glauben aufopfern zu sollen.

Die Einmütigkeit jedoch, mit der sich Europa nunmehr gemeinsam mit seinen Konkurrenten und ohne geringste Gegenwehr seihst das Wasser abgräbt, vermag allein eine klassentheoretische Analyse zu erhellen. Dem Weltliberalismus schwankte der Boden unter den Füßen, als das Proletariat und die Intelligenz der Oikumene sich zusammensetzten, um die deutschen Philosophen zu lesen. Die Drachensaat der Aufklärung und des deutschen Idealismus lehrte sie das Fürchten, oder mit den Worten des Kölner Bankiers Freiherrn Kurt von Schroeder vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg: »Die allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft gingen dahin, einen starken Führer in Deutschland an die Macht kommen zu sehen, der eine Regierung bilden würde, die lange an der Macht bleiben würde ... Ein gemeinsames Interesse der Wirtschaft bestand in der Angst vor dem Bolschewismus und der Hoffnung, daß die Nationalsozialisten ... eine beständige politische und wirtschaftliche Grundlage in Deutschland herstellen würden.«

Solche Zusammenhänge zu begreifen, konnte man einmal an deutschen Universitäten lernen, nämlich als es die Marxisten und die Humanisten noch gab. Glücklicherweise hörte ich 1961 und 1962 Vorlesungen über Pädagogik bei einem Mann, der beides in sich vereinte, ein einmaliger Vorteil, wie sich noch nach Jahrhunderten zeigen wird. Ich spreche von Heinz-Joachim Heydorn, für dessen Gedanken ich wohl als einziger genügend vorbereitet war, denn immerhin hörte ich bereits auf dem Gymnasium, wo ich die klassischen Sprachen bei ehemaligen Wehrmachtsoffizieren, sämtlich Doctores, lernte, bei einem Jesuiten, den sie sich für Schikurse engagiert hatten, die Philosophie von Marx und hatte im Unterricht unseres Sozialkundelehrers, der noch dreizehn Jahre davor für die iVlunitionsproduktion des Reiches zuständig war, wohl das erste Referat über das Kommunistische Manifest gehalten, das an einem Gymnasium in dem westlichen Restreich gehalten wurde. So darf ich sagen, daß ich noch von Männern erzogen wurde.

Was nun Heydorn angeht, so kannte er mich aus Gesprächen mit seinen ehemaligen Assistenten, die sich, wie ich später erfuhr, des öfteren über meine theatralischen Taten und akademischen Possen unterhielten. Wir trafen uns einige Male auf der Buchmesse an meinem Stand und fielen uns fast in die Arme – zwei Männer so verschiedener Generationen, die sich persönlich nicht kannten und die nicht einmal gemeinsame Arbeit verband! Hier begegneten sich eben zwei Individuen, das heißt humanistisch gebildete Intellektuelle. Wir wechselten einige geistvolle Scherze, womit sich Schaumschläger unseres Ranges erheitern, und das war genug für ein Leben.

Besagter Heydorn also hatte sich mit dem hier zur Debatte stehenden Thema ebenfalls lange Jahre in einem politisch verbrachten Leben herumgeschlagen, und wir sind nun verpflichtet anzugeben, woran es ihm mangelte. Anders als der reife Niemöller glaubte er nicht, daß ein rotes Deutschland nur das Zweitschlimmste nach der amerikanischen sogenannten Demokratie sei, sondern im Gegenteil haßte er die Kommunisten ebenso wie die Nationalsozialisten und die Großkapitalisten. Unglücklicherweise nutzte es ihm nichts, daß er sich zu den Sozialdemokraten flüchtete, denn sie verstießen ihn aus ihren Reihen, womit sie nur einen seiner Fehler korrigierten, da in einem Milieu des Schwachsinns die Intelligenz nichts verloren hat. Dennoch empfand er sozialdemokratisch, und zwar wie dann auch die meisten der Schüler dieser seiner Generation von Sozialisten, der man den Sozialistischen Deutschen Studentenbund verdankt, linkssozialdemokratisch. Heydorns Konzept bestand darin, daß eine analytische Vernunft das soziale Leben bestimmen solle; und die beiden Beine dieses utopischen Kolosses mußten, wenn er stehen können sollte, das sozialrevolutionäre Engagement und die qualifizierteste Bildung, deren man sich versichern kann, sein. Er lebte es jedenfalls vor, er erkrankte lebensgefährlich am Knie. Seinem ganzen Plan nach stand das bildungspolitische Programm im Mittelpunkt seines Lebens, und er war sich nicht zu blöde, als Sozialdemokrat und in dieser von Klassenkämpfen, Produktionskrieg, von Religions-, Kultur- und Streitereien zwischen den Rassen zerrissenen Welt ohne Zentrum die humanistische Bildung als einzige und obligatorische Schulform für alle zu fordern, sondern er sagte: Gerade deshalb ist es die einzig mögliche Rettung. So hat denn auch sein Sonnengott wie der von Chares, obgleich Weltwunder, das Schicksal erlitten, ohne sichtbare Reste zu verschwinden, wahrend dem Sonnenstaat des Campanella die Gunst von Rhodos zuteil wurde, in der bekanntlich die Rose der Erkenntnis leuchtet.

Seine Sozialdemokraten erkannten besser als er, in wie hohem Maße identisch Humanismus und Reich waren, deshalb verfolgen sie beides mit ihrer ranzigen Rancune. Heydorn jedoch, dem selbst die Erinnerung an Macht (wie aus seiner Biographie erklärlich) noch zutiefst mißfiel, teilte mit den neudeutschen Verteidigern des »humanistischen Gedankens«, wenn auch sonst nichts, so doch die Schwäche zu glauben, das eine sei ohne das andere von irgendwelchem Belang. Ich unterstelle ihm, der wußte, daß »die deutsche Humanität, das Wort, in dem sich der Mensch begriff, so weit hinter uns liegt wie Ninive oder Babylon« (1958), daß er es mit der humanistischen Bildung ernst meinte, denn ich weiß aus Erfahrung, daß Marxisten Leute von pathologischem Ernst sind; dann aber durfte er seine Geschichte nicht derart vergessen und die gedachte Zukunft nicht derart im vagen lassen. Er hätte angeben müssen, welche wehrhafte Verfassung den Humanismus mit der ehernen Ananke vermitteln soll (was etwa Engels und Lenin stets haargenau getan haben), wenn er schon ein Reich und zu ihm in Verhältnis stehende Nationen nicht mehr glaubte annehmen zu dürfen und er das Proletariat nur in der Rolle von Schülern sah. Indem er zu wissen glaubte, daß die »überkommenen Werte« mitsamt der »Welt, der sie zugehört haben, untergegangen« seien, hielt er es gleichzeitig für die »Aufgabe der Zeit«, »die Möglichkeit einer begründeten Hoffnung auf eine menschliche Geschichte aufrechtzuerhalten«. Als die Studenten hörten (1969), sie sollten »lebendig und wirksam gemachte Verheißung« stiften, damit das Reich des Menschen dem Reich Gottes entgegenwachse, fühlten sie sich allerdings geheimnisvoll bestätigt. Wir aber statten diesem hervorragenden Mann hier unseren Dank für die kleine Parabel ab, zu der er sich damals durch uns inspirieren ließ: »Dies (eine Zeit harter Auseinandersetzungen) hat sich schon in der letzten Zeit angekündigt; es wird uns dabei sicherlich nichts geschenkt werden, gerade von dem Teil der jüngeren Generation nicht, der den Versuch macht, um die Erhaltung des Menschentums zu kämpfen. Die Methoden sind manchmal gewiß verrückt – aber wenn man einen Augenblick von der gesellschaftlichen Gewöhnung abstrahiert und sich vorstellt, man lebe auf einem anderen Stern und werfe einen Blick auf die menschheitliche Gesellschaft, dann ist sie immer noch irrationaler als der irrationalste Student. Dies wird in einem solchen Augenblick völlig deutlich.« Im übrigen hielt Heydorn – und daran sieht man, daß sich Qualität nicht verleugnen kann – die Aufmerksamkeit, welche die radikal-demokratische Intelligenz den Populationen der sogenannten dritten Welt zollte, für einen Fehlgriff und Schwachsinn, für einen Akt der Verzweiflung, eines Denkenden unwürdig, ungeeignet, die anstehenden Aufgaben durchsichtiger zu machen. In der Zeit, als die Studentenliebe zu jenen Völkern am heißesten lohte, verglich der gebildete Realist sie mit der Pest, vor der man im Mittelalter vergeblich die Stadttore schloß.

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