Republikanische
Blüte
Drittes Buch
(1986)
Es ist im Grunde auch alles Thorheit, ob einer etwas aus sich habe, oder ob er es von andern habe; ob einer druch sich wirke oder ob er durch andere
wirke; die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig. Goethe zu Eckermann, 17. Februar 1832
. . . wo möglich muß man auf einen Punkt seine Hauptkraft richten, und diesen zum Haupt des Ganzen machen. Scharnhorst
Von den großen Siebzigjährigen hörte ich oft davon sprechen, daß die Deutschen eine Chance, die ihnen nur einmal gewährt worden sei, nicht genutzt oder verspielt hätten. Je mehr ich die Weltverhältnisse
kenne, will es mir jedoch im Gegenteil immer wahrscheinlicher vorkommen, daß die Chancen uns erst aus den wunderbaren Katastrophen der älteren sowie der jüngsten Vergangenheit, um die
nicht nur die Völker, sondern sogar die unendliche Schöpfung uns beneiden, erwachsen sind; sie werden allerdings nicht gesehen. Moltke mit Napoleon verglichen, so sind sie sich sehr ähnlich, nur daß
Moltke den Unterführern grundsätzlich mehr Entscheidungsspielraum ließ. Das ist tief weise, und kein Volk außer den Deutschen hat es seit den Griechen dahin gebracht, die individuelle Hochleistung auf allen
Ebenen nicht nur hin und wieder zu begrüßen, wenn sie gegen die Regel stattfindet, sondern primär herauszuarbeiten und im Kampf vorauszusetzen. In dem Zwiegespräch zwischen dem Unglücksboten
und der Mutter des Xerxes läßt Aischylos die Organisation der Griechen erklären und sagen: »Keines Menschen Knechte heißen sie und keinem untertan.« Worauf die alte Königin dem Sinne nach fragt:
»Und wie können sie dann überhaupt einen Angriff aushalten?« Ich kann darin keinen Nachteil erblicken, daß Stiefel, Kanone und Bajonett bei uns nicht mehr das Ansehen genießen wie früher. Wenn
sich dennoch immer noch die meisten Völker darauf verlassen, ist das eine Gelegenheit, die die Göttinnen der Gunst der Stunde für uns aufbewahrt hatten und die sich uns jetzt bietet. Für den Geratenen
gibt es keine unglücklichen Umstände, sondern nur ungenutzte Gelegenheiten. Bei uns fällt die welthistorische Krise mit der logischen zusammen, denn daß die Gesetze des Geschehens in der
Brust des Menschen liegen, und nicht außerhalb seiner am Himmel hängen, das konnte auf die Dauer nicht gehalten werden, das ist zu schwer. Die Differenzen mit dem Orient, von den Griechen mit mehr
oder weniger Bravour durch Alexanders Gottkaisertum gelöst, von den Römern und Franzosen mit Mühe ausgeglichen in lex und raison, sind ohnehin von den Teutonen nur geistig, in wüster Dialektik
hautnaher Auseinandersetzung mit dem logos selbst ausgefochten, und nie in positiv-legalistischen Ordnungen gefaßt worden. Daraus, daß wir politisch nicht frei sind, haben wir zu entnehmen, daß Freiheit
keine politische Kategorie sein kann. Unsere Sittlichkeit, unser Staat, unsere Moral und Religion werden, wenn künftig überhaupt, dann mehr denn je zuvor in Musik, Philosophie, überlegener
Naturbeherrschung, in geistiger Ordnung höchsten Ranges bestehen. Es zählt nur dasjenige, worin man eine deutliche und unaufhebbare Suprematie aufrecht zu erhalten imstande ist. Die Kunst besteht nun
darin, eben dies zum Staat und zur Verfassung zu machen, diese Form den Völkern als die überlegene voranzutragen; ganz so wie Alexander und Aristoteles, nachdem sie die Abwehr Asiens bei Platää
durch die klassischen Griechen später ein für allemal in einem höheren Standpunkt berichtigt hatten, nicht einen Staat, sondern Menschheit begründeten. »Deshalb verlangt jede Kunst«, sagt
Goethe, »den ganzen Menschen, der höchstmögliche Grad derselben aber die ganze Menschheit.«.
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