Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

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»Essermi sempre al fianco: ogni momento esiger dal mio core qualche prova d'amore; e starmi intanto preparando la morte!« ruft Titus in der metastasianischen Oper Mozarts aus. Man zeiht mich des Klassizismus. Wirklich gefällt mir an La Clemenza di Tito die einfache große Form der Charaktere. Die Kunst gewinnt ihren Kanon aus solchen Helden, und gibt hinwiederum der Gesellschaft Gesetze. Ich gebe Gneisenau recht, daß der Mensch das kriegende, das tapfere, edelmütige Wesen sei, aber er ist es als Künstler; bei den Griechen waren Kriegslist und Kunst noch dasselbe Wort. Die Kunst ist die höchste Form des Krieges, wie der Akt die höchste Form der Darstellung. Stein wurde aufgrund eines Mißverständnisses in das höchste Staatsamt berufen; Napoleons Statthalter hielt ihn für einen Trottel und empfahl ihn darauf dem Kaiser, der dann vom preußischen König seine Einstellung als Minister verlangte. Auf ähnliche Weise entging einmal David, der Sohn Isais, dem sicheren Tode. Freiherr Karl vom Stein hätte gar nicht leben können ohne die Schilderungen der Griechen und Römer, angesichts derer Karl Marx sagte, seit ihnen sei das Selbstgefühl ganz aus der Welt gekommen; Goethe las in den letzten Tagen seines Lebens nur noch Plutarch, während Hanns Eisler, Freund Brechts und wie dieser Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, des Lucretius De rerum natura auf dem Nachttisch liegen hatte, als er starb. Man muß sich an Menschen aufrichten, um als Mensch sein Dasein zu ertragen. Die älteste Schwester meiner Mutter ist tätiges Mitglied der Judenchristengemeinde in Jerusalem. Eine auffällige Ähnlichkeit besteht zwischen der Schöpfungsgeschichte des Buches Bereschit und dem ersten Buch der Ovidischen Metamorphosen, aus welchem mir jüngst zu meiner Überraschung mein unwilliger Gewährsmann in Fragen das jüdische Volk betreffend, zitierte: Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo Sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. Poena metusque aberant, nec verba minacia fixo Aere legebantur, nec supplex turba timebat Iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti. Das Land, in welchem einst Ströme von Milch und Ströme von Honig flossen, ist hier von einem Genius aus der Sphäre des hellenistisch-christlichen Götzendienstes als urkommunistische Idylle erträumt, in welcher noch alles von selbst ging, Recht ohne Recht existierte, Reichtum ohne Arbeit herrschte, jeder ohne Zwang und Furcht das Richtige tat. Seit Saturns Sturz ging es bergab, die Gegenwart ist gezeichnet von Habgier und Verbrechen, war das Urteil des gesamten Altertums. Auch wir leben in einer Zeit, in welcher nicht das Verbrechen verfolgt wird, sondern die Unschuld und die Geradheit. Ovid durfte beklagen, daß man die Bäume zum Zwecke des Schiffbaus fällte; wir fördern eine Industrie, welche durch Vergiftung der Luft, des Wassers, des Bodens, der Nahrung und durch Zerstörung von Leib und Seele und durch Abtötung des Geistes das Leben der Völker unmittelbar zu vernichten begonnen hat. Mit dem Mord an großen Teilen der europäischen und amerikanischen Jugend stützt man Regierungen und Währungen. Auch das ist eine Seite des Liberalismus, jenes Ungetüms, das mit dem Königtum paktierte, Kinderarbeit, Fortschritt und Romantik zuerst hervorbrachte, dann tolerierte. Daß die linksliberale Intelligenz vor allem anfangs und auf dem Höhepunkt der Bewegung den Hauptangriffspunkt der außerparlamentarischen Opposition der Jugend, welche - was den Prozeß für Uneingeweihte so außerordentlich schwer verständlich macht; es ist aber eine Bündnisfrage - eben diesem selben liberalen Bürgertum angehörte, darstellte, war zutiefst richtig; eine andere Frage ist, ob es intelligent war, sich an den von Imhoff stets abgelehnten proletarischen Formen der Öffentlichkeit zu orientieren, nachdem von der anderen Seite die Parteien proletarischer Weltanschauung umgekehrt schon längst neue, flexiblere Aktionsformen entwickelt hatten - man erinnere sich an Togliatti und Gramsci. Nur sehr wenige wurden von Kairos, dem Gott mit dem fliegenden Schopf, geliebt, so daß sie dem Erfordernis der Synthese von Insurrektion gegen die mangelhaften Väter, Kampf um Konstitution, Organisierung der Revolution und Anspannung des künstlerischen und Erkenntnisprozesses nachzukommen vermochten und ihm genüge leisteten. Das Zusammenspiel von neuer Klasse, sozialer Revolution, Schaffung von Konstitutionen, Heeresreform oder wenigstens überraschenden Siegen und künstlerischer Erfindung ist bei jeder Revolution bekanntermaßen denkbar groß; aber bei den Unruhen der 1968er Jugend bestand das Revolutionäre wesentlich in nichts anderem als in jener Kollusion. Darin liegt wahrscheinlich die Bedeutung, das Moderne, die Zukunft dieser Bewegung begründet »So, che sedetto fu Lentulo da te; ehe i suoi seguaci son pronti gia; che il Champidoglio acceso dara moto a un tumulto. Io tutto questo gia mille volte udii; la mia vendetta mai non veggio pero.« So drängt sie: »Brennt das Kapitol nun endlich?!« Doch wie stets, so wendet sich auch hier schließlich alles zugunsten des Titus und, unerwartet, der ihn liebenden Anstifterin der Erhebung; des Titus, en passant, der mit der Zerstörung des Tempels der Juden in Jerusalem im Jahre 70 einen für dieselben, für die Deutschen, für Europa und die gesamte Weltgeschichte bis heute und wachsend in seinen Konsequenzen nicht abzuschätzenden Anstoß gegeben hat. Das Vertrauen auf die Güte (bonta) des Caesars, das Wissen, das Beste bereits zu besitzen , daß Standhaftigkeit und Tugend des Staats, in seiner Spitze am würdigsten verkörpert, la sua dolcezza usata, durch nichts erschüttert werden könne, hat auch die Jugendrevolte, dem Märchen ganz vergleichbar, gerade in ihren radikalsten Positionen und Persönlichkeiten, besessen; es war ja diese Zuversicht, welche, leider zutiefst erschüttert, weil so geliebt, wieder hergestellt werden sollte. Der alte Kampf um das Reich, freilich einem neuen, gerechteren und gebildeteren, war es, der als Demonstration des Willens nach einer modernen Konstitution, der denkbar modernsten, die Liebe zum Alten mit der nach Einheit von Gewissen und Gesellschaft zu verbinden strebte, welche nach allgemeiner Überzeugung allerdings nur in einer auf die proletarische Macht ausgerichteten Gesellschaft möglich sein würde. »Sia nota a Roma, ch`io son lo stesso, e ch`io tutto so, tutti asolvo, e tutto oblio«, sagt der milde Titus, einziger Inhaber des Titels »Liebe und Entzücken des Menschengeschlechts«. Eigenartig, daß Mozart und Leopold II, zu dessen Krönung zum König von Böhmen sie geschrieben wurde, nach dieser Oper sterben: am gefäßezerbrechenden Napoleon. »Oh Dio! non puo chi more, non puo di piu penar« (auch einer, der wirklich stirbt, kann nicht mehr leiden als ich unter dem Blick des Caesars), sind die Worte des Attentäters Sextus vor seiner Begnadigung; nicht alle überlebten die Frankfurter Revolte so wie jene die römische; »troncate, eterni Dei, troncate i giorni miei, quel di ehe il ben di Roma mia cura non sara« die letzten des Titus. Auch er lebte nicht lange.