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Der Zweite Weltkrieg war das erste weltumfassende Ereignis der Menschheitsgeschichte. Schon teilweise die Jugendbewegung der fünfziger, dann aber die Studentenrevolte der sechziger Jahre war die
zweite, unvergleichlich geringere, dennoch fast ebenso globale Erscheinung. Ein Zusammenhang zwischen beiden stellt sich dem Betrachter unschwer her, und es ist verwunderlich, daß die Historie
einen Aspekt schon nach so wenigen Jahren vernachlässigt, der unübersehbares Hauptthema war; man erinnere sich nur, wie auf dem Höhepunkt der Antivietnamkriegskampagnen das Bild Hitler
-Deutschlands ständig beschworen wurde. Ob der Kapitalismus notwendig zum Faschismus führe, war denn auch die Frage unseres eiferndsten Interesses; und den Ursachen des deutschen Faschismus
nachzuspüren, die Frage zu beantworten zu suchen: Wie »das«, wie Hitler, wie die Massenpsychose möglich gewesen ist? war unsere fanatische Energie gewidmet. Wenn sich die Besten, Regsten,
Vitalsten einer ganzen Generation weltweit einer derartigen Erforschungslust hingeben, darf man erwarten, daß etwas hängenbleibe, und tatsächlich wird man unter den jüngeren
Menschen kaum einen, der bei Sinnen ist, davon überzeugen können, daß die ungeheueren Greueltaten der jüngsten, wie übrigens auch schon der ältesten Geschichte, in etwas anderem ihre Ursache hatten
als in den Maßnahmen der Plutokraten zur Aufrechterhaltung des Status quo, beziehungsweise der Wahrung ihrer Interessen unter neuen Verhältnissen. Es fällt nun sofort auf, daß dies ein
kommunistischer, marxistischer Standpunkt ist, wenigstens sich von einem solchen zunächst nicht unterscheidet, und es entsteht daraus das Problem, welches die Jugend der Welt nicht zu lösen imstande
war: Ist man gehalten, die Konsequenz zu ziehen und den letzten Schritt noch zu tun, in das Lager der Bolschewisten überzuwechseln, oder sind die Bande der eigenen alten Geschichte und Verfassung so
wertvoll, daß sie nicht nur gegen die mörderischen Auswüchse des untauglichen Kapitalismus, sondern auch gegen die Ansprüche des Kommunismus, insbesondere desjenigen in russischer Gestalt, zu
verteidigen sind. Die Illusion, wenigstens die Jugend auf einem gleichsam dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu einen, zerschlug sich an den Felsen der politischen Realitäten, die
man mit ungeheueren Hoffnungen zu überspringen geglaubt hatte. Das kommunistische Vietnam vermochte das Vaterland zu befreien und zu einen, aber die Welt blieb gespalten; unversöhnlich stehen
sich, dem Genius der Jugend spottend, die alte Welt der Monopol-Despotien, die behauptet, Freiheit und Seele der Individuen vor dem rücksichtslosen Materialismus der kommunistischen Welt zu schützen,
und der unaufhaltsam vorwärtsdrängende proletarische Jacobinismus, der für sich in Anspruch nimmt, die Rechte des Menschen und seine überkommenen Heiligtümer zu bewahren und in der neuen Welt
vernünftig aufzuheben, gegenüber. Deutschland aber, wie zur Wahrheitsprobe, hat, von den Turbulenzen der fragenden, wahrheitsliebenden Jugend, wie es scheint, als Ganzes am wenigsten
berührt, seine Zweiteilung behalten, ja bestätigt. Denn nichts hat so sehr zur Anerkennung der Realitäten beigetragen wie der ernüchternde Ausgang einer Jugendemeute, die doch überzeugt war,
die Einsicht, das Bewußtsein, die demonstrative, aufdrängende Mitteilung des Wesens des Unrechts und der luciden Ursachen der nationalen Unfreiheit könnten dieselbe unter Umständen aufzuheben
in der Lage sein. Die Ernüchterung selbst ist hier Index der Wahrheit, und insofern kommt den gescheiterten Unruhen der endsechziger Jahre eine höhere Bedeutung zu, als sonst irgendeiner erfolgreich
einigenden Macht zugekommen wäre. Die Zeit, die Welt sind noch nicht reif, um einen Prozeß von derart unerhörter Gewalt, wie ihn die sozialen, technischen und nationalen Auseinandersetzungen der
Gegenwart darstellen, in das Endstadium seiner Entscheidung eintreten zu lassen. Im übrigen ist kaum etwas Auffallenderes denkbar als die deutsche Studentenbewegung, die unfähig war, die
nationale Frage auch nur in ihre Themen aufzunehmen, geschweige darüber nachzudenken. Soviele Tabus man erschütterte, das eigene Schicksal wurde ohne Scham tabuisiert. Selbst die Besten befanden
sich vermöge der den Deutschen angetanen Umerziehung auf Nato-Kurs und durch die allgemeine Kriegsnachwirkung in einer derartigen Bewußtlosigkeit der Nation gegenüber, daß sie trotz Marx, Engels,
Lenin, Stalin, Dimitroff, Mao Tse-tung, Ho Chi Minh und Che Guevara, der prominentesten Führer des revolutionären Fortschritts und Meister in der Handhabung und Hochschätzung des Nationalgeistes
und nationaler Unabhängigkeit, überhaupt keinen Zusammenhang zwischen der Selbstbestimmung der Nation und der von der radikaldemokratischen Opposition angestrebten »klassenspezifischen
Verbreiterung der Massenbasis, vor allem aber deren qualitativen Organisierung« (Krahl, Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates, 1968) herzustellen vermochten. Humboldt hat in seiner
Denkschrift, die er in Frankfurt am Main im Dezember 1813 an Stein schrieb, einen gleichsam leninistischen Gedanken über das Verhältnis von Nation, Freiheit, Geist und Fortschritt ausgesponnen, wie er uns
notgetan hätte, wie er aber unseren Studenten, denen der Staat autoritär und darum das zu Negierende schlechthin war, unendlich fernlag. »Deutschland muß frei und stark sein«, schrieb Humboldt,
»nicht bloß, damit es sich gegen diesen oder jenen Nachbar, oder überhaupt gegen jeden Feind vertheidigen könne, sondern deswegen, weil nur eine, auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich
bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Innern strömen; es muß frei und stark sein, um das, auch wenn es nie einer Prüfung ausgesetzt würde, nothwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner
Nationalentwicklung ruhig und ungestört nachzugehen und die wohlthätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Nationen für dieselben einnimmt, dauernd behaupten zu können. - Auch läßt sich
das Gefühl, daß Deutschland ein Ganzes ausmacht, aus keiner deutschen Brust vertilgen, und es beruht nicht bloß auf Gemeinsamkeit der Sitten, Sprache und Literatur..., sondern auf der
Erinnerung an gemeinsam genossene Rechte und Freiheiten, gemeinsam erkämpften Ruhm und bestandene Gefahren, auf dem Andenken einer engeren Verbindung, welche die Väter verknüpfte
und die nur noch in der Sehnsucht der Enkel lebt.« Wie man denn überhaupt sieht, daß der Kommunismus der gebildetsten universalistischen Bürger Sache ist: Jener materialistische
Humanismus, der seine Vorläufer ebenso in Leonardo, Campanella wie Kant und Goethe hat, der gegliederte Weltstaat, der sich zwischen antikisierenden Gelehrten und den Turmbauten
technologischen Wahns zum ausgeglichenen Segen einer befriedeten und geheilten Menschheit verwirklichen soll, ist Werk des humansten Liberalismus, dessen genialste Vertreter seine Theorie entwickelten
und deren Epigonen ihn auch heute noch tragen. Das wiederum wußten die Studenten - man muß der Wahrheit die Ehre geben -, und - sancta simplicitas! - lehnten ihn deshalb ab. Aber auch darin steckte ein tiefer Sinn.
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