Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

9

Heraklit hatte keinen schlechten Gedanken, als er sagte, daß alles, was kriecht, Geißelschlag hütet. Ob es Gesetze, gesellschaftliche oder natürliche, sind, was uns treibt, bleibt zweifelhaft, eher Turbulenzen. Für die gegenwärtige neukonservative deutsche Propaganda hat das Hambacher Konstitutionsfest, das am 27. Mai 1832 Zehntausende von Demokraten, Liberalen und Republikanern zu der für damalige europäische Verhältnisse absolut neuen Form der Demonstration des Volkswillens zusammenführte, jedenfalls soviel Wert, daß man seinen 150sten Jahrestag für seine Zwecke in Anspruch zu nehmen versuchte. Denn obwohl man den Geist jener Kundgebung getrost revolutionär nennen darf und ihre Teilnehmer die erklärten Feinde des Despotismus veralteter Verhältnisse waren und ihre extremsten Auswüchse bis zu jener Verschwörung reichten, die am 3. April 1833 mit dem blutigen Uberfall auf die Frankfurter Konstablerwache die bewaffnete Volkserhebung mindestens in ganz Deutschland signalisieren wollte, so hatten doch die »Demagogen« genannten deutschen Initiatoren und ausländischen Gastredner drei Ziele, welche heute selbst rechter Programmatik, freilich in ihrem besonderen Sinn, als existenznotwendig erscheinen müssen, zumindest aber aufs neue eine demagogische Verlockung darstellen. Es handelt sich um die Punkte »Deutschlands Wiedergeburt in Einheit und Freiheit«, den insbesondere durch die polnischen Emigranten nach der Niederwerfung des Warschauer Aufstandes durch russisches Militär geforderten deutsch-polnischen Freiheitskampf und das gemeinsame Handeln der europäischen Völker, insbesondere des französischen und deutschen. Mag nun aber der Aktionsradius reaktionärer deutscher Politik außerordentlich eingeschränkt sein - in Wirklichkeit ist man handlungsunfähig -, eine vernünftige, geniale Politik könnte jene Ziele als immer noch objektiv richtig und realisierbar ausweisen. So könnte man beispielsweise den Plan des polnischen Kommunisten Adam Rapacki einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa wieder aufnehmen, oder beide Teile Deutschlands, Polen und die Tschechoslowakei zu neutralisieren und mit der Schweiz zusammen einen Staatenbund zu schaffen anstreben, der das Fortschrittlichste darstellen würde, was die Erde bis dato gesehen hätte. Nur einen Katzensprung von Hambach entfernt siedelten die Majoratsbauern Imhoff, in Frankweiler, Gleisweiler und zuletzt in Eußerthal neben dem Zisterzienserkloster, dessen Kapläne die Reichsreliquien auf Trifels hüteten (wo auch Richard Löwenherz gefangen saß). Johann Adam Aretin, Mitarbeiter eines der bösesten Gegner von Steins Einigungsplänen, Montgelas' Ministers in Bayern, gründete mit Stein zusammen die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde. Die Militärs in London arbeiteten 1945 für die Soldaten in der britischen Besatzungszone einen Handzettel für den Umgang mit den Deutschen aus, in welchem vor uns gewarnt wird: Die Deutschen hätten zwar einige große Komponisten hervorgebracht, seien aber andererseits mit einem unberechenbaren zwanghaften Verlangen nach dem eigenen Untergang versehen. Gneisenau gründete den Führungsanspruch des Staates Friedrichs des Zweiten auf Waffen, Konstitution und Wissenschaften. Das Kaiser-Friedrich-Gymnasium, das ich besuchte, stand in dieser Tradition; es hieß zu meiner Zeit allerdings schon nach Heinrich von Gagern, dem Präsidenten der Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche 1848 - anläßlich deren Hundertjahrfeier 1948 übrigens Fritz von Unruh aus der Familie meiner zweiten Gattin, die Festansprache im zertrümmerten Frankfurt hielt. Wenn wir durch die Trümmer fuhren, mein ältester Freund in die Freiherr-vom-Stein-Schule, wir anderen an der Paulskirche, am Römer, dem Kaiserdom vorbei in unsere Anstalt, hatten wir unsere unbewußte lebendige Geschichte, unsere Geschichte Deutschlands, ebenso groß wie problemlos und unbeachtet und unbekannt täglich zwischen Frühstück und Unterricht. Deutschlands Geschichte war tragisch verlaufen, so hörten wir; daß aber das große, unvergleichliche, das größte Wunder der Menschheit, das heilige Deutschland nicht noch völlig existierte, das wäre uns nie in den Sinn gekommen. Ja, ich glaube, nach unserem kindischen Verständnis hatte Deutschland durch die Niederlage des Verbrecherregimes sogar welthistorisch dazugewonnen. Wenn also die Engländer frohlockten, daß von den drei Prätendenten auf das Caesarenreich Germanien (seit 800), Britannia (seit 1066) und Rußland (seit 1453) das älteste nun vernichtet sei, so empfanden wir uns im Gegenteil in unserem Werte vermehrt, seit es sich für uns erübrigt, für die Gesundheit und Weisheit von Königen zu beten. Und wenn ich das Ergebnis meiner langjährigen Studien zusammenfasse, so stellt sich heraus, daß ich auch heute noch nicht anders urteile, indem ich den Zusammenbruch des Zweiten und Dritten Reiches nicht anders denn als Selbstreinigung des deutschen Volkes ansehen kann. Das ignorante, servile Heucheln, womit man heute vor den Siegern über Deutschland Preußen verleugnet, ist widerlich; gleichwohl sähe ich nie Ursache zu leugnen, daß uns die Alliierten bei unserer Selbstbefreiung von Preußen und dem tödlichen Übermut einiger der überflüssigen Tyrannen dankenswerte Dienste geleistet haben. Auch unter den Lehrern schien die einhellige Meinung zu herrschen, daß etwas weniger Militarismus und dafür etwas mehr Volksherrschaft Deutschland gut tun könne; von dem Ideal des gebildeten Offiziers hörte man nichts, und es ist mein Verdienst, wenn ich ihm wieder zu einiger wenigstens literarischen Bedeutung verholfen habe. Im Gegensatz zu den Professoren hatten diese Männer an den Gymnasien, jedenfalls nach meiner Vermutung, die Kopfwäsche im Atlantik nicht über sich ergehen lassen müssen, und doch legten sie schon den Keim einer Relativierung Deutschlands, seiner Geschichte und seines Volkes. Der geistigen, politischen und militärischen Führung beraubt, waren sie nicht in der Lage, uns unsere geschichtliche Mission zu erklären, und wurden von Jahr zu Jahr des Bodens unwürdiger, auf dem sie standen. Als sich nach einiger Zeit die Brut unterfing, sich ein eigenes, neues Bewußtsein zu schaffen, war es kein Wunder, daß sie diese Gestalten mit hinwegfegte. Deinde cessavit ars, danach hörte die Kunst auf, sind Worte des Plinius (34, 51) über die Griechen, er meinte die 121ste Olympiade (296 - 293). Das Stichjahr war 1968, in welchem sich einmal mehr zeigte, daß das deutsche Empfinden, wie die deutsche Musik, der Welt die Themen vorgibt.