Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

13

Den scheinbar unsystematischen Gang unserer Betrachtungen und Überlegungen sind wir nun gehalten auf das deutsche Wahlkönigtum zu lenken. Fides heißt Treue, Glaube, Kredit und persönliche Sicherheit: daß alle diese Dinge dasselbe bedeuten, ist mehr als bezeichnend. Wenn es heute keine kommunistische Sowjetunion, keine marxistische Regierung in der Deutschen Demokratischen Republik gäbe, hätten diejenigen, welche den Deutschen die tiefste Verfassungsgeschichte der Menschheit neiden, die Genugtuung, uns auf die angelsächsischen Verhältnisse herabgesunken zu sehen. Das Verhältnis Steins zur englischen Verfassung war ambivalent; was er unbedingt übernehmen wollte, war die Verantwortlichkeit der Minister, im übrigen gab sie ihm Gelegenheit, mit seinen westfälischen anglophilen Freunden überhaupt über die künftige deutsche Verfassung zu diskutieren. Im Grunde hatten die Engländer Einfluß auf ihn als seine unversöhnlichen Mitfeinde des verhaßten Anarchisten Napoleon, dieses Ungeheuers, das nach Steins Auffassung mit seinem lächerlichen Spuk Europa fast erwürgt hätte. Im übrigen nährten sich sein Interesse und Wissen und seine Projekte von der damals auf der äußersten Höhe befindlichen Quellenforschung deutscher Rechts- und Verfassungsgeschichte (Johann Jakob von Moser an ihrer Spitze), von der Lektüre von Staatsphilosophen wie Montesquieu, von eigenen Erfahrungen mit den noch intakten alten Ständeverfassungen des Reiches, und waren grundsätzlich motiviert durch die eigene gefährdete Lage als des reichsunmittelbaren Ritters. Es galt für ihn, das Antiquierte seiner Freiheit in praktikable Prinzipien eines modernen Staates umzukehren. Stein war zutiefst überzeugt, daß das Reich nur dann weiterbestehen könne, wenn es möglich wäre, ihm eine Verfassung zu geben, in welcher jeder einzelne gemäß seinem eigensten Interesse kein höheres Ziel haben dürfe als sich für das allgemeine Wohl aufzuopfern. Ewig war es sein Problem, wie der Eigennutz zur Wiederherstellung des Reiches, möglichst im Umfange, den es zur Zeit der Sachsenkaiser und der Staufer besaß, zu gebrauchen sei. Denn das Reich besaß bei ihm absolute Priorität, und Staatsbürger eines längst angebrochenen neuen Zeitalters, für das England damals als beispielhaft galt, sollten für es motiviert werden, die bislang noch als Untertanen den Ausschweifungen ergebener Fürsten winziger Territorien dahinvegetierten; den Gelehrtenstand ausgenommen, von dem die Reform denn auch wesentlich getragen wurde. Die moderne Barbarei der Gegenwart hat denn auch wo immer möglich darauf geachtet, zu verhindern, daß eine nationale Intelligenz für den Fortschritt Sorge trage. So hat man nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Intelligenz zuerst entführt, dann abgeworben, bestochen, entnationalisiert, gebrochen, auf die westliche Hemisphäre eingeschworen, mit atlantischem Stumpfsinn zu verblöden versucht, schließlich ihr allen Mut und Perspektive genommen; und bis heute, vierzig Jahre danach, hat man nicht nachgelassen, den Druck ständig zu verstärken und schon die jungen Menschen durch die verschiedensten Manipulationen im Rahmen der Völkerfreundschaft ihrem Mutterboden zu entfremden, ihnen ihr Deutsch zu vergällen, sie zu verführen und zum willenlosen Werkzeug einer gegen ihr Vaterland gerichteten Politik zu machen: dies alles fast ohne Zwang und mit Zustimmung der Restdeutschen selbst. Dem Verwalter des britischen Hannover antwortete Stein - um darauf zurückzukommen - auf jenes Bedenken, englische Einrichtungen auf deutschen Boden zu übertragen: Immerhin seien doch die Grundsätze der englischen Verfassung in den deutschen Urwäldern geboren worden. Eine sehr eigenartige Antwort, weil sie zwar einen törichten Dünkel zurückwies, aber in der Sache doch nicht ganz stichhält; die Antwort Steins ist aus der Verlegenheit geboren, sich jahrelang - übrigens vergeblich - um das Verständnis der englischen Verfassung bemüht zu haben, um doch dann feststellen zu müssen, sie sei für unsere Reichsverhältnisse nicht zu gebrauchen. Das größte verfassungsgebende Genie der neueren Zeit hatte übersehen, was einige Jahrhunderte früher ein Landsknecht nicht falsch gemacht hätte: Daß das Imperium nur aus sich selbst existieren kann - solange es existiert. Aber das ist eben der Punkt. Da unsere Kaiser - anders als die Caesaren, die etwa eine zerstörte Stadt aus der eigenen Tasche wiederaufbauen ließen - bei Geldsäcken Anleihen aufnehmen mußten, scheuten sich auch ihre Minister nicht, in Königreichen, die von Rechts wegen Steuern zu zahlen hätten, geistige Anleihen in Verfassungsfragen zu machen. Eine Ungeheuerlichkeit! Sie war früh erkannt worden, und es besteht darin eine der tiefsten Weisheiten des Weltgeistes, daß das deutsche und italienische Volk dieses Problem nicht zu lösen vermochten, welches das Problem des deutschen Wahlkönigtums mit allen seinen Konsequenzen war. Das deutsche Königtum folgt unmittelbar auf den Caesarismus; die anderen in den letzten beiden Jahrtausenden politisch gewordenen europäischen Formen sind historisch zuletzt peripher. Das gilt insbesondere für das keltische, das sich in Gallien und Britannien schon lange vor den Römern rein ausbildete und nach relativ kurzer Unterbrechung durch die fränkische Herrschaft im Falle Frankreichs, durch die Eroberung der Angeln, Sachsen und Jüten im Falle Englands mit einem anderen, neueren, dem normannischen Königtum verschmolz. Hier verbanden sich also ein denkbar zentralistisches, wenngleich in der Erscheinung normalerweise in seine Teile lose zerstreutes, kriegerisches (nackt kämpfend) Königtum in wohlorganisierten Städten, gekennzeichnet durch Despotismus der Priester, uneingeschränktes Patriarchat und hochrangige Eisenverarbeitung, mit dem extrem harten Feudalismus, wie er sich in den germanischen Dynastien Skandinaviens um die Zeit seiner Christianisierung herausbildete. Dem steht die mitteleuropäische Szenerie gegenüber; denn obwohl die deutschen, westgermanischen, Stämme mit den nordgermanischen eng verwandt sind - zum geringen Teil im Norden ihnen sogar angehören - oder aus ihnen hervorgingen; und sie bereits zu Caesars Zeiten in gewissem Umfange mit den Kelten die engste Verbindung eingegangen waren, herrscht doch im Zentrum des christlichen Abendlandes, im Kerngebiet des Reiches, ein von jenen Charakteren völlig freies, ganz anderes geistiges Klima. Wenn im Hochmittelalter die deutsche Dichtung nach Sagenstoff zur Verherrlichung des von Gott eingesetzten obersten Herrschers über die Welt sucht, nimmt sie in Ermangelung autochthoner Überlieferung die keltische Artussage. Die Deutschen hassen Könige; sie nehmen sie in Kauf, wenn sie der Hort für Freiheit und Recht sind, wenn sie ihre Rechte schützen und womöglich vermehren. Das ist die Dialektik und Tragik der alten deutschen Verfassung; denn ein solches Königtum, das ja per definitionem auf der Macht freier Belehnung beruhte, mußte sich früher oder später selbst aufheben: Nur im Reich beschnitten wachsend die verliehenen Rechte das Recht und damit die Macht des belehnenden Königs. So urteilt Hegel richtig über den »Gedankenstaat« (das »Reich«, das nur in Gedanken bestehe): »Deutschland hat sein Prinzip, das es der Welt gegeben, für sich nicht ausgebildet und darin seine Erhaltung (nicht) zu finden gewußt.« (Jugendschrift über die deutsche Verfassung.) Dies zu verhindern, krönten die römischen Theologen und Juristen Karl - welcher viel lieber ein David als ein Julier sein wollte! - zum Caesar; es versuchten zur größten Zeit der Deutschen, in den Tagen des Barbarossa, Otto von Wittelsbach, Rainald von Dassel und andere Heroen um den Kaiser, demselben eine Machtbasis zu schaffen, welche es unmöglich machen sollte, daß Roms Papisten, Mailands Republikaner - andere Feinde gab es damals nicht mehr; selbst Englands Heinrich II. stand mit ihm im Bunde gegen Rom! - die kaiserliche Macht auch nur anzutasten wagten. Vor allem aber stellten die neuen Juristen Bolognas und Paduas die Macht des Römischen Kaisers Deutscher Nation, der die Stelle Constantins und Justinians einzunehmen bestimmt sei, auf ganz raffinierte verfassungsmäßige Grundlagen. Seine Herrschaft ruhe auf seiner Qualität als Imperator; seinem legitimierenden absoluten Willen gebühre daher die unbedingte Macht auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens: Würden und Ämter zu übertragen, Heeresfolge und Lieferung von Nahrungsmitteln nach seinem Ermessen zu verlangen, in den Stadtgemeinden kaiserliche Behörden einzusetzen, über alle Regalien, Münze, Zölle, Salzquellen, Bergwerke zu verfügen. Freilich bedeutete dieser Verfassungsentwurf , abgesehen davon, daß er illusorisch war, sosehr er die kaiserliche Macht vor dem allmählichen Zusammenbruch bewahrt hätte, einen Schritt in die Richtung jenes Byzantinismus, mit welchem den Westen Europas politisch wieder zu vereinen die vornehmlichste, und doch unerreichbare Aufgabe gewesen wäre. Barbarossa, wenngleich konkurrenzloser Genius deutscher Universalmacht, ist nicht zufällig mit ewigem Schlaf geschlagen; den Fortschritt hat er nicht auf seiner Seite, als er versäumt, sich auf die Seite der freien Stadtrepubliken zu stellen (die nun ihrerseits das Recht, die Macht und das Charisma Davids für sich in Anspruch nehmen) und den Ruhm und die Wonne des eigentlichen Europäismus zu begünstigen. Stattdessen gerät er, wie 100 Jahre zuvor schon die fränkischen Kaiser, in gefährliche Nähe des nord- und westeuropäischen harten, auf den Nationalstaat hinzielenden Feudalismus, der inzwischen ja auch längst in Südeuropa und in der Rusj die erstaunlichsten Erfolge errungen hatte. Seinem Enkel Friedrich II., einem Fürsten der Stadtkultur im höchsten Maßstab, erst wird die spezifisch deutsche Stadtkultur ihren mächtigsten Antrieb verdanken. Hoch anzurechnen ist Barbarossa die - wenngleich schließlich gescheiterte - Insistenz auf der Wahl seiner Parteigänger zu Päpsten. Auf dem schmalen Grat zwischen dem Reichstag Barbarossas in der Ronkalischen Ebene bei Piacenza im November 1158, auf dem der Kaiser mit orientalischer Machtbefugnis ausgestattet wird, und dem oktogonalen erhaben und einsam gelegenen Jagdschloß Castel del Monte in Apulien, in welchem die Nachkommen Friedrichs II. verschmachten sollten, bewegt sich die Unmöglichkeit des deutschen Königtums, Recht und Freiheit unter feudalen Bedingungen zu schaffen, zu bewahren und zu schützen. Die Bestrafung von Mainz (1160) und Mailands Demütigung (1162) sind unauslöschliche Schandtaten; wie modern ist Heinrich der Löwe gegen ihn, der den Kaiser denn auch durch Verweigerung der Gefolgschaft ins Verderben reißt. Barbarossa, dieser vollkommen gestaltete Gottmensch und unsterbliche Hoffnung der deutschen Nation, verkörperte die deutsche, noch besser teutonische Variante des allerwiderlichsten Herrentypus, der seinesgleichen womöglich noch überragte. Die Dialektik von Zentralismus und Demokratie, welche in jener Zeit von den Nominalisten, von Abaelardus und seinem von Kaiser und Papst den Flammen übergebenen Schüler Arnold von Brescia diskutiert wird und die nach deren Meinung und der der lombardischen Gemeinden in der an altrömischem Vorbild orientierten Stadtrepublik zum Ausgleich kommen soll, durchherrscht seitdem die Geschichte bis hin zu den Auseinandersetzungen der Ersten Internationale zwischen Marx und den Anarchisten, und wird erst durch die Lösung der Bolschewiki vorläufig zum Schweigen gebracht.