Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

19

Wir müssen unsere Genugtuung darüber nicht unterdrücken, aus den vorangegangenen Kapiteln etwas gelernt zu haben, und man sollte auf unsere Weise ruhig fortfahren, ein Vorurteil nach dem anderen zu entkräften. Vor allem scheint es nötig, sich davon freizumachen, der Konsens sei ein Merkmal der Wahrheit. Man muß es für möglich halten, daß die gesamte Menschheit einmütig taumelt, und doch Unrecht hat gegen einen einzigen. Wer die Möglichkeit gänzlich außer Acht läßt, die Juden etwa könnten Recht haben gegen die anderen Religionen, oder der Atheismus gegenüber aller Religion, ist nicht vernünftig zu nennen. Es ist die Dialektik der Concordantia catholica, die hier obwaltet: Die Wahrheit ist das Ganze, aber das Ganze ist doch auch nur ein Teil des Ganzen, welches das Ganze des Ganzen und seiner Teile ist. Die Alliierten (übrigens - man lache ja nicht! - unter Beteiligung deutscher Militärs etc.) haben gerade das vierzigste Jahr der Invasion der Amerikaner festlich begangen; der amerikanische Präsident, der sich vorgenommen hat, den Kommunismus während seiner Legislaturperiode von der Erde zu fegen, erinnerte daran, daß Amerikaner und Russen noch niemals Krieg miteinander führten und sich sogar des gemeinsamen Sieges über den Hitler-Faschismus rühmen dürften, worauf die Sowjetunion kühl replizierte, die Rote Armee sei in der Lage gewesen, auch allein diesen Sieg zu erringen, die Amerikaner hätten ohnedies nur eingegriffen, weil sie die Besetzung ganz Deutschlands durch die sowjetischen Streitkräfte befürchteten. Überhaupt aber sei der Hitler-Faschismus nur mit amerikanischem Geld hochgekommen. Diese Art, die Dinge zu betrachten, in welcher die entscheidende und zentrale Größe, Deutschland, nur noch als Streit- und Beuteobjekt der abstrusen Vorstellungen von Inhabern der Provinzial-Waldvorposten erscheint, ist geeignet, unsere Zeit als beispielhafte Epoche des Zerfalls auszuweisen; in solchen geschichtlichen Abschnitten pflegen Barbarenmassen und Usurpatoren im Bündnis an jeder beliebigen Waldecke den Anspruch auf die Führung der Weltangelegenheiten zu erheben. Man muß sie nicht schelten, und niemand hat sie je deshalb gescholten, zumal man es gar nicht verhindern könnte; jeder Teil ist nämlich auch ein Ganzes und strebt natürlich danach, das Ganze zu werden. Denn das heißt ja eben catholica. Der Umschlag des Ganzen seinerseits zum bloßen Teil geschieht zudem jeweils früh genug. Da wird das Imperium geteilt, dann der Prinzipat selbst (Diokletian); da schließt man 843 einen Vertrag von Verdun; der römische Kaiser deutscher Nation legt sein Amt nieder und wird österreichischer Kaiser; einer nennt sich Kaiser der Franzosen; dann wird einer von einem protestantischen (!) Kanzler zum Deutschen Kaiser gemacht - alles Dinge, welche suggerieren müssen, es sei alles Werk der Willkür, der Proklamationen und überhaupt des Gemeinwahns. Dem ist indessen nicht so. Man schafft kein römisches Reich ab, es existriert, ab man will oder nicht; die Anerkennung und das gesetzte Recht vermögen nichts, als daß sie die Indizien historischer Verbrechen darstellen. Wir dürfen uns fragen, wie unter diesem Gesichtspunkt die gegenwärtige Europa-Politik zu beurteilen sein wird - etwas, das sich trotz einer ganzen Reihe gesamteuropäischer Institutionen und eines Europaparlaments kaum genauer bestimmen läßt als dadurch, daß es von England ignoriert, von Frankreich mit Vorsicht verfolgt und von der Bundesrepublik DeutschIand mit Eifer betrieben wird. Freilich hat Westdeutschland mehr als einen Grund, sich um Europa zu kümmern, es nimmt gleichsam in der Erinnerung seine Pflichten als Reich wahr, wenn ihm das historische Gewissen seine Hauptgründe für das Engagement abgibt. Dennoch wird es ein bedauernswertes Opfer seines Mißverständnisses über seine geschichtliche Mission werden, wenn es über seiner Funktion als antikommunistischem Regime mit dem höchsten Ansehen in der Welt seiner lebenswichtigen Aufgabe des Zusammenhaltens Ost-und Westroms, des geistigen Zusammenschlusses des Reiches Alexanders des Großen und Karls des Großen, nicht gerecht wird. Par exemple müßte Westdeutschland, statt im einseitigen Interesse der Nato die türkische Militärherrschaft zu stützen, einen bedeutenden Teil seines Wirtschaftspotentials etwa auch nach Persien werfen, oder sich zu gleicher Zeit, da es seine Ausfuhr nach dem Westen und die militärische Integration in dem Westen betreibt, mit größter Energie der Erschließung und der Zivilisation Sibiriens widmen, indem es die Sowjetunion nach Kräften in ihren diesbezüglichen Plänen unterstützte. Das wäre richtigverstandene Concordantia catholica. Welche Wahl haben wir denn? Oder wollen wir vor unserer Zeit in das Nichts der Vergessenheit sinken? Den Gedanken des Werdens haben die Deutschen gefaßt und unter den ungeheuersten Opfern, die sie sich selbst und anderen aufzwangen, verfochten; ihn gilt es zuende zu bringen. Unsere Politiker begründen ihre Anstrengungen für ein vereintes Europa mit der Notwendigkeit der Beseitigung anachronistischer Grenzen; da ihre wahren Gründe die der Freiheit kapitalistischen Wirtschaftens sind, sind ihre Gründe und Ziele zutiefst geheuchelt. Sie wissen, daß die tatsächlich entscheidenden Grenzen eben durch die Notwendigkeiten und Zwänge kapitalistischen Wirtschaftens gesetzt sind; folglich werden die Gräben, die unseren Untergang beschleunigen, in dem Maße tiefer gerissen, je besser ihr Europa gedeiht. Grenzen ganz anderer Art sind es nämlich, die für den Fortbestand Europas zu unüberwindlichen Hindernissen wurden. Herder und Goethe entstanden zu Zeiten der dichtesten Schranken, und da mutet man uns jetzt zu, zu glauben, daß die Beseitigung von einigen Holzpfählen unsere künftige Wohlfahrt begründen könnte. Ich will nicht annehmen, daß es der deutschen Industrie insgeheim nur um die Verfolgung derselben Ziele gehe, nur unter neuer Larve, die sie mit Hilfe Hitlers bereits verfolgte, denn das wäre zu lächerlich. Aber was heißt es eigentlich, zu hoffen, wirtschaftlich bestehen zu können entgegen den von uns selbst ausgearbeiteten Universalplänen? Man muß es der Studentenbewegung zugute halten, daß sie die massive geistige Unterdrückung des Erbes der Deutschen angeprangert hat; sie hat, obschon sonst durchaus insuffizient, damit den Nerv unserer Chancen getroffen. Entscheidender jedoch ist, daß in den gegenwärtigen Überlegungen über ein vereinigtes Europa das existierende Weltsystem der Nationalstaaten als die notwendige Konsequenz aus dem Orbis des mittelalterlichen Reiches geleugnet wird. Ein vereinigtes Europa wäre nicht nur als Bewahrer kapitalistischen Wirtschaftens und als Bollwerk gegen die Sowjetunion reaktionär, sondern auch als Restitution, als Instauratio Romana, das heißt als Wiederholung des christlichen Universalreichs. Marx, Engels und Lenin legten den größten Wert auf den internationalistischen Fortschritt innerhalb der nationalen Integrität. Indem dieses universelle Verfassungsprogramm unseren Reaktionären als reaktionär gilt, scheint es seine historische Legitimität a priori genugsam bewiesen zu haben.