Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

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Der rechte Verstand leidet nach Dürer unter nichts so sehr als unter dem Anblick von »Falschheit im Gemäl«. Der Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein ist ein Heros, der als einziger die Wechselfälle des deutschen Schicksals überstanden hat und sich auch für die Zukunft als gesamtdeutscher Genius der Hochachtung aller Menschen empfehlen können müßte. Im Grunde ist es das Verhältnis zur Vergangenheit, worin er uns am meisten Lehrer ist. Sollten wir uns jemals ermannen, wozu wir bei unserer Weiterexistenz verpflichtet sind, und die Konstituierung des Vierten Deutschen Reiches in Angriff nehmen, werden wir keine einzige Frage ohne völlige Klarheit über unseren historischen Werdegang und die Methode, mit welcher wir uns des Wissens für die Gegenwart und Zukunft zu bedienen gedenken, lösen. Johannes R. Becher, derjenige von den deutschen Dichtern, welcher als Kommunist 1944 die Kulturaufgaben des demokratisch-antifaschistischen Deutschlands konzipierte, wird es gewesen sein, der an anderer Stelle die Ästheten davor warnte, die Verfeinerung rücksichtslos zu übertreiben; er wußte, daß Finesse und Barbarei sich im Unendlichen treffen. Unter den westdeutschen Reformentwürfen, die in das Grundgesetz Eingang fanden, ist der des Jesuitenpaters Nell-Breuning über die Sozialbindung des Produktionseigentums bemerkenswert. Der große chinesische Maler Kung Hsien (gestorben 1689), Haupt der Nanking-Schule, ein Extremindividualist, der der gefallenen Ming-Herrschaft nachtrauerte, pflegte von sich zu sagen: »Es gab niemanden vor mir, und es wird niemanden nach mir geben.« Mer hun gedo, wos mer gedo hun. Das Volk war nämlich keineswegs der ungeteilten Ansicht der Weltreaktion, der Zweite Weltkrieg sei das einzig mögliche Mittel gewesen, um dem Vordringen des Bolschewismus Einhalt zu tun, sondern auch in der neuen Führung, die sich zunächst von der alten, nationalsozialistischen, distanzierte, teilweise sogar dem Sozialismus zugetan. »Europa wird christlich und sozialistisch sein, oder es wird nicht sein« (Walter Dirks), ist ein bezeichnendes Zeugnis jener Zeit des Erwachens nach dem Kriege. Die Entscheidung war noch nicht gegen das Volk gefallen, welches sich geschworen hatte, sein Leben niemals mehr in die Hände der Kapitalistenklasse und Militärkaste zu geben; es wollte ein neues, friedliebendes, ungeteiltes, selbstbewußtes Deutschland, nachdem die Schuldigen bestraft worden wären. Die Bourgeoisie jedoch erwarb Absolution durch den Machtspruch der militärischen Sieger auf Kosten der Volkssouveränität und um den Preis der Einheit Deutschlands. Doch was sie sich so erschlich, konnte nur vorläufig sein; und wenn heute das Volk ohne seine Bourgeoisie gegen die Interessen der Siegermächte die Einheit nicht wiederherstellen könnte, so ist die Bourgeoisie in derselben Lage: auch sie kann ohne das Volk nicht handeln. Und so windet sie sich denn auch schon lange, und neuerdings wieder schrecklich ungeduldig, wie der Drache unter des heiligen Georgs Lanze. Diese Situation bezeichnet die gegenwärtige deutsche Politik. Wenn aber Deutschland nicht handelt, wird es untergehen. Deutschland als Ganzes ist auf seine beiden Klassen angewiesen und auf seine beiden Staaten, wenn es seinen eigenen politischen Willen zu seiner Rettung den anderen Mächten gegenüber zur Geltung bringen will. Wenn Deutschland also Ost- und Westvasall bleiben sollte, wird es untergehen und mit ihm Europa. Es wird indessen Vasall bleiben, wenn sich das westdeutsche System nicht in Richtung Sozialismus als der einzig möglichen modernen Form verfassungsmäßigen Lebens und kapitalistischen Wirtschaftens auf den Weg macht. Denn die gegenwärtige Konstellation bietet eine unlösbare Fesselung der Kräfte dar, die es nicht erlaubt, auch nur an einer Stelle die Energie zu entwickeln, welche unbedingt erforderlich ist, um die deutsche Kultur in dem ihr nötigen Rahmen wiederherzustellen. Das Hauptkriterium zur Beurteilung unserer Zukunft ist demnach: Führen unsere politischen Maßnahmen zu einer solchen Vereinheitlichung deutscher Interessen, daß eine nationale Kraftentfaltung die Folge sein muß; oder anders: Führt das, was deutsche und die anderen mit uns in Zusammenhang stehenden Regierungen tun, langfristig zum Sozialismus? Das ist nun beinahe schon wieder ein marxistisches Programm, aber bitte: Ist es nicht ebenso ein denkbar günstiger Prospekt für die Bourgeoisie? Hat sie denn eine andere Wahl als diesen Entschluß? Natürlich nicht. Ich höre immer von einem meiner unzuverlässigen Zuträger, in Bonn wisse keiner mehr, worum es gehe. Das Gegenteil nehme ich an. Ich schreibe nur für die schöngeistige Nachhut, was die christlich-europäische Vorhut in Absprache mit Amerikanern und Russen hoffentlich schon längst betreibt. Die Größten haben am längsten an einem Bild gemalt: Leonardo, Dürer, Cézanne. Denn Lüge und Eile, »Falschheit«, sind ein gleicher Greuel; man muß aber die Zuversicht haben, daß, wo auch nur einer der Wahrheit dient, Gott die Menschen noch nicht verlassen habe.