Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

17

Auch neue Verfassungen, welche keine Revolution bedeuteten, nannte man bisweilen Revolution, wie die Glorreiche englische von 1688, oder die nationalsozialistische von 1933 in Deutschland, die sogenannte völkische, um ihnen Ansehen und Gewicht und ein Charisma zu verleihen. Die Revolution ist nämlich die Hebamme neuer Verfassungen, die eine Gesellschaft, ein Volk, eine Klasse oder sonst ein Verband, wenn die Zeit da ist, unbedingt hervortreibt. Auch sonst werden Revolutionen als etwas Heiliges gehandelt, wenn nur nicht dadurch Zweifel an der Legitimität der gerade gültigen Verhältnisse geweckt werden, das heißt an der Verfassungsmäßigkeit, oder der Wirklichkeit, der jeweiligen Verfassung. Es war das Verhängnis Deutschlands, daß der Versuch seiner Restitution vom Nordosten, von Preußen, aus unternommen wurde, einer halbbarbarischen Grenzmark, und daß die besten Geister im Glauben, nur dieser starken Hand, wenn überhaupt, möchte das schwierige Werk glücken, sich ein Jahrhundert lang in den Dienst des Hauses Brandenburg gestellt haben; denn hätte man Preußen stattdessen zum Scheitern gebracht und den Nationalstaat - wenn er schon sein mußte, um die Torheit der Menschen zu befriedigen - vom alten Reichskerngebiet aus errichtet, dann wären uns die beiden Weltkriege erspart geblieben. So darf man getrost sagen, daß in dieser Beziehung gerade die größten Genies, Goethe zwar nicht, und der hochpotente Verstand vieler Männer gefehlt haben. Auf den Trümmern des Napoleonischen Rheinbundes hätte sich leicht errichten lassen, was 1848 dem Militär der reaktionären Fürstenverschwörung zum Opfer fiel. Denn die Volksherrschaft war und ist nicht aufzuhalten, weil sie der Verfassung des Menschen qua Menschen entspricht. Die Frage ist deshalb nicht, wie man sie verhindert und ihre jugendlichen Kräfte bricht, sondern wie man sie ihre künftige Verfassung mit Hilfe einer gesteigerten Humanität finden läßt. Der Separatismus Adenauers ist nur relativ; die Teilung Deutschlands muß nicht sein Ende sein. Wenn Mecklenburg, Brandenburg und Sachsen vorübergehend ohne Einfluß auf West- und Südwestdeutschland sind, so wird nur ein Verhältnis berichtigt, das seit Friedrich dem Großen verkehrt war. Hinsichtlich des historischen Ubergewichts des westlichen Reichsgebiets über das übrige hat die Studentenbewegung Adenauers Politik fortgesetzt, und in keiner Frage stand sie zu der kommunistischen Partei und dem sozialistischen Mitteldeutschland in schärferem Gegensatz. Wie Germanien seit zweitausend Jahren bis heute der mütterliche Garant einer freien Menschheit ist, so sollte im Interesse des Volkes innerhalb des Reiches das Übergewicht des alten Reichsgebiets über die Kolonisationsgebiete auch dann gewahrt bleiben, wenn ein Außenposten die Hegemonie glaubt beanspruchen zu können. Übrigens hat die Studentenbewegung auch darin die witzige Lage Deutschlands gespiegelt, daß sie sich einmal mit atlantischem oder Nato-Verständnis als »Neue Linke« verstand, dann asiatisch-byzantinisch als Teil der kommunistischen Weltbewegung, schließlich mit größerem Recht in der Tradition der Tübinger Freiheitsschwärmer wußte, die die Französische Revolution enthusiastisch begingen, da sie deutsche und Weltgeschichte noch zu identifizieren vermochten. Es sind dies schwierige Fragen, und man darf sich nicht scheuen, der Wahrheit zu trauen, sondern sollte sich vor Augen halten, daß sich falsches Wissen furchtbar rächen kann. Europa kann und darf von Amerikanern und Russen nichts lernen wollen, bei Strafe einer irreversibIen Selbstbeschädigung. Die Sieger wissen, warum sie alles in Bewegung setzen, um Deutschland insgesamt, besonders intellektuell und kulturell, auf ihre Standards herabzudrücken; der erschreckendste Greuel ist für sie der teutonische Nationalismus - etwas, das es gar nicht gibt, das sie aber als solchen mißverstehen und das ihnen in den Farben Schwarz-Weiß-Rot repräsentiert erscheint. »Man kann nicht aristokratisch genug sein. Nur durch ein gnadenloses Hochschrauben des Niveaus ist etwas zu erreichen. Gleichheit ist ein moralisches Postulat und ohne reale Bedeutung«, sagte einmal ein Studentenführer zu mir. Schon allein diese Bemerkung verwiese sämtliche handelsübliche Spekulation über die Studentenrevolte in Deutschland in das Reich des Schwachsinns und des Nebels. Als legitime Fortsetzerin der großen mitteleuropäischen Verfassungsgeschichte versuchte die deutsche Studentenbewegung mangelhaft vorbereitet und mit ungeeigneten Mitteln den gänzlichen Zusammenbruch dessen zu verhindern, was die Schlafmützen vor ihr schützen zu müssen glaubten. Nichts war je deutscher, teutonischer, als diese Revolte: in ihrer Traditionstreue wie ihrer Verpflichtung zur Innovation; selbst das modische Beiwerk (wie zum Beispiel der britische Trotzkisten-Unfug, die kalifornischen Negerrechtskrawalle oder das Prager Philosophentheater), so sehr es auf internationale Abhängigkeit verwies, war sofort durch den Rahmen der mitteleuropäisch-deutschen Kulturmacht entsprechend eingefärbt und charakterisiert; wofür allein die Lehrer garantieren konnten, etwa Abendroth, Adorno, Heydorn, alles Leute, die in der Bismarckschen sogenannten Reichsgründung den ungeheueren Irrtum und ein unnötiges Schicksal erblickten, die Marxsche Philosophie indessen als Fortführung der Rolle der kulturellen Ordnungsmacht, als logische Konsequenz der deutschsprachigen lateinischen Zivilisation, ansahen. Diese Partei, die die Erneuerung à la 1848 nicht nur in ihren Phrasen (wie das offizielle Westdeutschland und seine »Verbündeten«), sondern wissentlich tatsächlich vertrat, beherrschte - nach 120 Jahren - einen Augenblick lang das politisch-geistige Geschehen, während die Tradition der Unterwerfung unter westeuropäische Prinzipien, welche mit Friedrich dem Großen begann - gegen Machiavelli, für Calvin, der das Recht als geschriebene Vernunft ansah -, den Atem anhielt. Goethes Vater war fritzisch gesinnt, Goethes Mutter und Goethe standen auf der Seite des Reiches und der mit ihm verbündeten Franzosen. Preußen war die totale Gefahr, und was die Studenten auf der ganzen Welt am meisten haßten und darum zusammenschloß, waren die Fußstapfen der Preußen, in welche die Amerikaner, wenn auch als Komiker, zu treten begannen. Moltkesche zentralperspektivische Planung war bei uns in Ungnade gefallen; wir favorisierten Maos Langen Marsch und die nächtlichen Kleinüberfälle auf Ho-Tschi-Minh-Pfaden schleichender Asiaten, indem wir übersahen , daß sie mit sowjetischer Ausrüstung unter der Leitung eines französisch erzogenen Führers kämpften. Die Bewunderung, die das nach Größe strebende Amerika dem Preußentum in seiner Hitlerschen Ausprägung damals ganz offen zuteil werden ließ, trieb die Reste der deutschen Blüte aus ihrem jämmerlichen Dasein; und die kommunistischen Weltjugendspiele in Havanna und die Popularität der amerikanischen kommunistischen Partei stellten die vorläufig letzten Siege der deutschen Philosophie und des sächsisch-großrussischen Sozialismus dar. Wieweit die Studenten in der Bundesrepublik, die in der Regel großdeutsch denkenden Familien entstammten, diese Zusammenhänge zu sehen in der Lage waren, sei dahingestellt; es ist dies völlig gleichgültig. Wichtiger ist, daß die Väter es nicht erkannten oder aufgrund ihrer Verfehlungen darüber dicht zu halten gezwungen waren, daß hier authentisch klassische deutsche Politik exerziert wurde. Erstaunlich fürwahr, wie eine völlig aufgeweichte Jugend überhaupt die Aufgabe der Hegemonie sich wieder stellte und die von den Heroen des Römischen Reiches Deutscher Nation befruchteten Wege der Menschheit als gänzlich neue Avantgarde weiterzugehen selbständig unternahm.